Schlangenmeister

Tim Friede: Der Mann, der sich von 200 Schlangen beißen ließ

Jedes Jahr werden über 2,5 Millionen Menschen von Giftschlangen gebissen – 138.000 erliegen den Giften, 400.000 tragen bleibende Schäden davon. Tim Friede überlebte nicht nur einen, sondern 200 Schlangenbisse. Dabei war keiner von ihnen ein Unfall – Tim Friede hatte jeden von ihnen geplant ...

Schlangenbiss
Der Mann, der sich von 200 Schlangen beißen ließ (Symbolbild) Foto: iStock / gmalandra
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Entspannt lehnt sich Tim Friede in seinem Sessel zurück, in einer Hand eine Zigarette, in der anderen eine Gebänderte Wasserkobra. "Naja annulata", stellt er die Schlange mit ihrem lateinischen Namen vor, ehe er hinzufügt: "Das ist die gefährlichste Schlange Afrikas." 

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Nach dem Biss erfährt das Opfer der Schlange Lähmungserscheinungen. Die Atemmuskulatur hört auf zu arbeiten, man erstickt. Der Tod tritt zwar erst nach einigen Stunden ein – ein Gegengift existiert jedoch nicht. Diese Tatsache beunruhigt Tim Friede jedoch kein bisschen. Der gelernte Mechaniker hat keine Angst, von der Schlange gebissen zu werden. Ganz im Gegenteil: Genau dies ist seine Absicht. Sacht, fast schon zärtlich führt er den Kopf des Tieres an seinen Unterarm – und wartet darauf, dass die Kobra zuschlägt…

Das ultimative Gegengift

Das letzte Mal, dass er sich von dieser Schlange hat beißen lassen, war im Vorjahr zu Thanksgiving. Tim Friede saß im gleichen Sessel im Wohnzimmer und wusste nichts mit seiner Zeit anzufangen. Er musste auf seine Freundin Gretchen warten, die sich im Bad fertig machte. Da beschloss Friede, dass er sich, bevor er mit Gretchen zu ihren Eltern zum Festessen fährt, noch schnell von seiner Wasserkobra beißen lässt.

"Das war eine richtige Scheiß-Aktion", schimpft Gretchen bei der Erinnerung daran, während sie ihm dieses Mal ein Gefäß für das Schlangengift und eine Spritze bringt. Weil die Kobra kein Interesse daran zeigt, Friede zu beißen, nimmt er ihr eine für den Menschen tödliche Dosis ihres Giftes ab und injiziert sie sich mit einer Spritze. Außer einer geschwollenen Wunde zeigt der US-Amerikaner keinerlei Symptome.

Es ist ein Schauspiel, das Friede gerne vorführt. Dabei setzt der Familienvater sein Leben jedoch nicht für einen morbiden Party-Trick aufs Spiel. Friede trotzt dem Tod, um andere Menschenleben zu retten – und um die Forschung auf die Spur des ultimativen Gegengifts zu führen.

Antrainiertes Immunsystem

Auch Jacob Glanville, Immunologe und Gründer des Forschungslabors "Distributed Bio", wurde Zeuge davon, wie Tim Friedes Körper den Kampf gegen die tödlichsten Schlangengifte des Planeten scheinbar mühelos gewinnt. Doch bis Friede an diesen Punkt kam, lag ein weiter Weg vor ihm.

Im Jahr 2000 beschloss der gelernte Mechaniker aus Wisconsin, sich gegen Schlangengifte zu immunisieren. Über die nächsten Jahre injiziert er sich immer wieder geringe Dosen verschiedenster Schlangengifte. Bis Glanville und er sich in San Francisco im Labor von Distributed Bio treffen, hat er sich über 1000 Mal den Giften der Reptilien ausgesetzt. Als der Immunologe Glanville seinem Assistenten Ray Newland die von Friede entnommenen Blutproben übergibt, kommt der junge Forscher kaum aus dem Staunen heraus.

Friedes Immunsystem hat unzählige Antikörper gegen alle nur erdenklichen Schlangengifte entwickelt. In zahlreichen Tests finden Glanville und Newland heraus, dass die Antikörper – im Vergleich zu allen bisherigen Gegengiften – nicht nur drei Mal so effektiv die Gifte der Schlangen neutralisieren. Auch Schlangengifte, denen Friede sich nie ausgesetzt hat, werden durch seine körpereigenen Antikörper neutralisiert. "Tims Blut ist die beste Chance, die die Welt auf ein flächendeckendes Gegengift hat. Er hat die Forschung um Lichtjahre voran gebracht", erklärt Newland.

"Wieso müssen 130.000 Menschen sterben? "

Und so arbeitet das Forschungsteam von Jacob Glanville seitdem mit Hochdruck an dem ultimativen Gegengift. Dafür greifen die Forscher auf eine von Glanville entwickelte Technik zurück, die es ermöglicht, Medikamente aus von Patienten produzierten Antikörpern herzustellen. Doch die Zeit rennt: Weil die Produktion herkömmlicher Gegengifte teuer ist und die Wirkstoffe uneffektiv sind, haben viele der führenden Pharmakonzerne die Produktion eingestellt.

In stark betroffenen Regionen wie Indien und dem afrikanischen Kontinent herrscht deshalb eine bedrohliche Gegengift-Knappheit. Trotzdem wird die Arbeit von Jacob Glanville von vielen kritisiert. Ist es ethisch vertretbar, Tim Friede für die Produktion eines Medikaments solchen Gefahren auszusetzen? "Tim hätte sich ohnehin Schlangengift verabreicht", erklärt der Immunologe und fügt hinzu: "Und wenn das Heilmittel ohnehin in Tims Blut liegt – wieso müssen dann jährlich noch immer über 130 000 Menschen an Schlangenbissen sterben?

Nach mehr als 200 Bissen und 700 weiteren potenziell tödlichen Dosen hat Tim Friede endlich sein Ziel erreicht – er hat die Erforschung von Gegengiften revolutioniert.

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