Welt der Wunder

Wie überlebt man einen Amoklauf?

So lange dauert es im Schnitt, bis Polizisten einen Amokläufer in den USA unschädlich gemacht haben – oder er sich selbst erledigt. Millionen Amerikaner trainieren, um diese neun Minuten zu überleben. Doch wie übersteht man eigentlich einen außer Kontrolle geratenen Killer?

Junger Mann mit einer Pistole
2017 starben in den USA 117 Menschen durch Amokläufe Foto: iStock / Brycia James
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Amoklauf: Ein Albtraum wird war

Das Geräusch hält nur Bruchteile einer Sekunde an, doch unwillkürlich gehen alle Köpfe im Großraumbüro hoch. Sofort herrscht Stille. Wieder ertönt ein dumpfer Knall. Jeder der Anwesenden blickt in die erstarrten Gesichter um sich herum. Bumm. Bumm. Bumm – der letzte Laut dröhnt näher als alle vorherigen. RUN!

Es wird zur schockierenden Gewissheit: Im Gebäude muss eine Schießerei stattfinden. Sofort versuchen die Leute im Raum zu fliehen, nur weg von der Gefahr. Doch der Notausgang scheint blockiert. HIDE!

Mit vereinten Kräften versuchen die in die Enge getriebenen Opfer Schränke und Kopierer in die offenen Flanken des Büros zu rücken und in einer Ecke Zuflucht zu finden. Doch es gibt zu viele Lücken, und der Attentäter könnte jederzeit da sein. Einige schreien, andere schauen einander fest in die Augen: FIGHT!

Sie sind zu unfreiwilligen Gefährten geworden, die ihr Leben nicht kampflos hergeben wollen: Jeder in diesem letzten Aufgebot schnappt sich etwas Massives, Großes: Feuerlöscher, Stühle, Garderobenständer improvisieren die Antwort auf den Mann mit der Feuerwaffe da draußen auf dem Flur …

"Dem ist egal, wer du bist. Der will töten. "

Schnitt. Rick Matters ist zufrieden. Die Gruppe hat die Essenz des Trainings gut umgesetzt: Run, Hide, Fight (Deutsch: Abhauen, Verstecken, Kämpfen) – ein Mantra, wie es in dieser Form vielleicht nur US-Amerikaner kennen. Millionen von ihnen, vom Grundschüler bis zum Pensionär, haben bereits den Umgang mit Amokläufern geübt. Denn die Gefahr eines plötzlichen Angriffs mit Feuerwaffen ist in den USA so real wie anderswo Erdbeben oder Flächenbrände.

Allein 2017 starben in dem Land 117 Menschen bei Active Shooter Events, also "Ereignissen mit aktivem Schützen" wie die Massaker dort in seltsam beschönigender Weise offiziell heißen. Vielleicht, weil sich Waffen so tief in die kulturelle DNA des Landes gebrannt haben, dass selbst Blutbäder dieses Instrument der persönlichen Freiheit nicht in den Dreck ziehen sollen. Das gleiche Prinzip gilt zum Beispiel auch für die alternative Bezeichnung "rampage" (Randale, Herumtoben) oder auch der Name "friendly fire" (freundliches Feuer) für irrtümlichen Eigenbeschuss.

Insgesamt 346 Schießereien zählt die Statistik 2017 auf. Neben den 138 Amok-Toten kommen noch 15 637 Menschen durch Schusswaffen bei Überfällen, Gang-Gewalt, Streitigkeiten oder Unfällen ums Leben. Und mehr als 20 000, die den Lauf gegen sich selbst richten …

"Was sich wie ein ganz normaler Tag im Büro anfühlt, verwandelt sich gelegentlich in einen Action-Film", schärft Rick Matters den zwei Dutzend Kursteilnehmern noch einmal ein. Das dreistündige Seminar "Einen Amoklauf überleben" hat der Instruktor schon in Einkaufszentren oder Büros durchgeführt, aber auch an Schulen und in Sportzentren. Es gibt sogar Kurse speziell für Amokläufe in Bussen – keine Situation erscheint zu absurd, als dass sie nicht bereits am nächsten Tag wahr werden könnte.

"Neun Minuten dauert ein Amoklauf im Durchschnitt“, weiß Matters. "Die müsst ihr überstehen." Wo sind die Notausgänge im Supermarkt? Haben wir von unseren Plätzen im Restaurant die Tür gut im Blick? Kenne ich jetzt, in diesem Moment, den schnellsten Weg nach draußen? Es sind solche und ähnliche Fragen, die die Anwesenden immer begleiten sollen – wer zu sorglos ist, wird vielleicht bald Teil der Show voller Fotos, Pläne und Videos von echten Attentaten, die Matters mit unter seine Präsentation gemischt hat. Run, Hide, Fight – aber niemals Discuss: "Reden, Flehen, Argumentieren ist keine Option", beschwört Matters. "Dem ist egal, wer du bist. Er will töten."

"Muss der Angreifer schon geschossen haben? Oder darf ich gleich feuern? "

Vier von zehn US-Amerikanern befürchten laut Umfragen, Opfer eines Amoklaufs zu werden. Obwohl das Risiko dafür nur bei etwa 1:11 125 und damit rund 100 Mal unter dem eines Verkehrsunfalls liegt – und obwohl die Gewaltkriminalitätsraten in den Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten rückläufig sind, war die Angst vor Gewalttätern kaum jemals so hoch wie heute.

"Heutzutage muss man vorbereitet sein. Bei uns in der Gegend trägt jeder Verrückte eine Waffe spazieren, man kann dauernd in eine Schießerei verwickelt werden", bestätigt Kursteilnehmerin Carlie Sanchez kopfschüttelnd. "Das ist unser Leben." Mittlerweile gibt es sogar schon kugelsichere Schulranzen zu kaufen, die im Ernstfall als Schutzschild dienen sollen.

"Es gibt keine Sicherheit. Nirgendwo. Selbst in einer Militärbasis nicht"

"Wir müssen vorsorgen", so der Grund von Thomas Riley für seinen Anmeldung zum Training. Doch der Waffenbesitzer hat noch Fragen: "Muss ein Schütze schon gefeuert haben, bevor ich schießen darf? Was ist, wenn er nur damit droht? Oder ich vielleicht aus Versehen einen Unbeteiligten erwische?" Für viele US-Amerikaner lautet die Antwort auf den gefühlten Anstieg des Bedrohungspotenzials Aufrüstung – obwohl sich bereits jetzt mehr Feuerwaffen im Umlauf befinden, als das Land Einwohner hat.

Bringt das Training also mehr Sicherheit? In vier von fünf Bundesstaaten sind Amoklauf-Übungen an Schulen bereits seit Jahren Pflicht. Das Problem: Sie alle fokussieren sich auf den einen wahllos um sich schießenden Täter. Andere, sogar häufiger auftretende Situationen mit Schusswaffen drohen deshalb zu eskalieren, etwa wenn die Person mit einer Schusswaffe eigentlich gar nicht töten will.

Außerdem nehmen gerade an Schulen die späteren Schützen selbst an den Trainings teil und können dann die Reaktion ihrer Opfer gezielt steuern. So betätigten die Attentäter während fünf Schulmassakern in den USA gezielt den Feueralarm, um ihre Opfer aus den Klassenzimmern zu locken.

Für Joseph LaSorsa, einen ehemaligen Agenten beim Secret Service, sind die Seminare bloß Augenwischerei: "Stehst du einem schwer bewaffneten, entschlossenen Schützen gegenüber, kannst du nicht viel machen. Auch wenn du dich statt in einer Schule in einer Militärbasis befindest – denn selbst dort sind die Eingänge angreifbar."

"Heutzutage muss man vorbereitet sein. Bei uns in der Gegend trägt jeder Verrückte eine Waffe spazieren, man kann dauernd in eine Schießerei verwickelt werden."