Wenn die Wut übernimmt

Was passiert, wenn ein Mensch Rot sieht?

Forscher entschlüsseln die geheimen Trigger, die meine Sicherungen durchbrennen lassen: Wie sie ausgelöst werden, warum es immer mehr Ausbrüche gibt – und warum Wut wichtig ist, um zu überleben.

Das passiert, wenn wir Rot sehen
Das passiert, wenn wir Rot sehen Foto: iStock / Evgeniy Anikeev
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An einem heißen Julitag zeigt die Wut ihre drei stärksten Ausprägungen in einer Postfiliale in Maryland. Der 67-jährige Ray Alfred Young steht in einer langen Schlange. Young ist im Ruhestand, er hat 37 Jahre für das Arbeitsministerium der USA gearbeitet. Seine Nachbarn beschreiben ihn als immer freundlich und zuvorkommend. Young ist nie aggressiv oder gewalttätig gewesen – bis zu diesem Tag.

Als ein 57-jähriger Mann sich scheinbar vordrängelt, sieht Young rot. Er zieht ein Messer und beginnt, auf den Vordrängler einzustechen. Die Wut hat Youngs Gehirn gekapert und vollständig übernommen – doch er ist nicht der Einzige. Auch sein Opfer kann keine bewussten Entscheidungen mehr treffen. Die Wut hat die Kontrolle – um ihm das Leben zu retten.

Mit Händen und Füßen versucht der Mann, Young abzuwehren und auf Distanz zu halten, während er aus mehreren Einstichwunden blutet. Und die Wut manifestiert sich in einer weiteren Form: EineAngestellte reagiert instinktiv und wehrt den angreifenden Young mit Pfefferspray ab.

An diesem Tag hat die Wut drei Menschen übernommen: Einen hat sie zu einem Gewaltverbrecher gemacht, einen hat sie vor dem Tod gerettet und einen weiteren zum Helden werden lassen. Doch warum lässt die Wut Menschen so unterschiedlich reagieren? Was aktiviert sie? Und warum sehen wir heute schneller rot als früher?

Wir müssen die Fähigkeit haben, gewalttätig zu werden

Jeder Mensch kann wütend werden, jeder Mensch muss wütend werden können. Denn in Extremsituationen überflutet uns die Wut mit einer Energie, wie es sonst keine andere im menschlichen Körper gibt. Der Grund: Wut reagiert im wahrsten Sinne der Wortes schneller, als unser Gehirn denken kann. Das ist überlebenswichtig – aber auch extrem gefährlich, wenn die falschen Leute zur falschen Zeit wütend werden.

"Wir müssen verstehen lernen, warum Menschen rotsehen", sagt R. Douglas Fields. Der US-Neurologe hat neun Gesetze der Wut definiert, die einen Wutkreislauf im Gehirn in Gang setzen. Dieser Wutkreislauf sitzt im Hypothalamus, einer winzigen Region im Gehirn, die ohnehin schon Körperfunktionen wie Hunger, Durst und unser Sexualverhalten völlig automatisch steuert.

Bewusste Entscheidungen werden stattdessen im präfrontalen Cortex an der Stirnseite des Gehirns getroffen – und die brauchen deutlich länger. Die neun Trigger werden dagegen instinktiv ausgelöst – wenn das eigene Leben, die eigene Gesundheit oder die Sicherheit der Familie auf dem Spiel stehen. Wir werden wütend, wenn jemand unsere Grenzen verletzt oder unsere Freiheit und unseren Besitz gefährdet.

Wir reagieren unnachgiebig, wenn unser Platz in der Gesellschaft oder unsere Gruppe selbst angegriffen wird. Das Problem: Werden die Trigger aktiviert, kann unsere Reaktion völlig unverhältnismäßig sein. Als Ray Alfred Young an jenem Tag in der Post erlebt, wie sich jemand vordrängelt, wird beispielsweise der Trigger der sozialen Ordnung aktiviert – ein extrem wichtiger Mechanismus, der das friedliche Zusammenleben garantieren soll.

Wir werden wütend, wenn jemand gegen unsere gesellschaftlichen Regeln verstößt, rufen vielleicht sogar die Polizei. "Doch kaum einer würde wie Young deswegen mit einem Messer auf einen anderen losgehen", sagt Fields. "Hier hat der Wutkreislauf einen kompletten Aussetzer zur Folge gehabt." Das Problem ist: Die Häufigkeit der Aussetzer nimmt zu.

Wir haben dasselbe Gehirn wie unsere Vorfahren vor Tausenden von Jahren - aber eine völlig andere Umgebung

Karl Bates drückt aufs Gaspedal. Ihm rinnen die Schweißperlen von der Stirn. Die australische Sonne hat seinen schwarzen Pick-up in eine Sauna verwandelt. Plötzlich zwingt ihn ein vor ihm fahrender Wagen, abzubremsen. Trotz Lichthupe zeigt der Fahrer vor ihm keine Reaktion – er erhöht weder das Tempo, noch lässt er ihn vorbei. Es ist der Moment, in dem der Wutkreislauf die Kontrolle übernimmt.

Karl Bates überholt auf der Gegenfahrbahn den Wagen vor ihm und bremst ihn aus. Er springt aus seinem Auto, rennt auf den Wagen des Überholten zu, hechtet auf dessen Windschutzscheibe und zertrümmert diese mit mehreren Faustschlägen. Erst als der Angegriffene auf das Gaspedal tritt und Bates durch das Anfahren von der Motorhaube fällt, wird ihm bewusst, was er da eben getan hat.

"Road Rage" nennen Psychologen das Phänomen, wenn Verkehrsteilnehmer plötzlich ausrasten, aufeinander einprügeln oder den Wagen eines anderen demolieren. Der Grund: Beim Autofahren können alle neun Trigger auf einmal aktiviert werden. Wenn jemand geschnitten wird, wird sein Territorium verletzt – und zudem seine Freiheit beschränkt, schneller fahren zu können.

Bei Tempo 100 besteht dabei auch Gefahr für Leib und Leben von allen Insassen. Das größte Problem beim Autofahren ist aber die Gruppenzugehörigkeit: Auf der Straße kämpft jeder nur für sich selbst. "Das Gehirn reagiert dabei wie vor Tausenden von Jahren, als unsere Vorfahren gegen wilde Tiere und Mitglieder von anderen Stämmen kämpfen mussten", sagt Fields.

"Wir leben mittlerweile nicht mehr wie vor Tausenden Jahren. Nur: Unser Gehirn weiß das nicht." Anders ausgedrückt: Als der Freiheits-Trigger vor 100.000 Jahren unseren Vorfahren enorme Kräfte verliehen hat, um sich aus dem Gebiss eines Krokodils zu befreien, hat der Hypothalamus nicht an Staus auf der Autobahn gedacht.

"Road Rage" ist dabei nur einer von vielen Faktoren der modernen Welt, die auf Konfrontationskurs zu unseren Wut-Triggern geht. Die Reizüberflutung und der stressige und schnelle Lebensstil vor allem in Großstädten führen immer häufiger zu Aussetzern im Wutkreislauf. Im Internet werden Trigger wie die Gruppenzugehörigkeit potenziert, weil wir global mit einem gewaltigen Spektrum an Meinungen und Ideologien konfrontiert sind.

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Im Wutkreislauf steckt das Beste und das Schlechteste des Menschen

Es ist 17.45 Uhr, als Ayoub El Kahzani mit einem Sturmgewehr aus der Bordtoilette in Waggon 12 tritt. Es sind 554 Menschen an Bord des Thalys-Zuges 9364 von Amsterdam nach Paris an diesem 21. August 2015. Er feuert auf einen Reisenden, der ihn aufhalten will. Das Projektil dringt in den Rücken des Briten Mark Moogalian ein und tritt am Hals wieder aus.

Im Zug bricht Chaos aus. Die Passagiere versuchen, in den nächsten Waggon zu fliehen. Plötzlich springt hinter einem Sitz ein junger Mann hervor und rennt frontal auf El Kahzani zu. Es handelt sich um den 23-jährigen Amerikaner Spencer Stone, der mit zwei Freunden im Zug sitzt.

Was El Kahzani nicht weiß: Stone gehört der United Air Force an, den Luftstreitkräften der USA – und er hat gelernt, seinen Wutkreislauf gezielt anzuzapfen. Er nutzt diese Energie, um sich auf El Kahzani zu stürzen, der bereits auf Stone zielt. El Kahzani drückt ab – Ladehemmung. Und schon hat der Amerikaner den Terroristen im Schwitzkasten.

Dieser zückt ein Teppichmesser, schneidet Stone tief in den Hals und trennt ihm fast den Daumen ab. Schließlich gelingt es Stones Freunden, El Kahzani bewusstlos zu schlagen. Mit letzter Kraft schleppt sich Stone zu dem am Boden ausblutenden Moogalian, dem der Terrorist in den Rücken geschossen hat. Er steckt seinen Finger in die Halswunde, verschließt so die Arterie – und rettet dem Briten das Leben.

"Das ist die Macht des Gruppen-Triggers, die uns gewalttätig werden lässt, um Leben zu retten", sagt Fields. "Es kann das Beste in einem Menschen aktivieren – sein Leben selbstlos für andere zu riskieren." Aber dieser Trigger hat auch einedunkle Seite: Hier steckt das Potenzial für Kriege, für tödliche Bandenrivalitäten und mörderischen Rassismus.

Hier liegt der Ursprung des sogenannten "Wutbürgers". "Aber obwohl die Wut in unserem Gehirn fest verankert ist, sind wir ihr nicht willenlos ausgeliefert", sagt Fields. "Wir können lernen, sie zu kontrollieren."

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