Interview

Aljosha Muttardi: "Das Angenehmste ist, Menschen wirklich zuzuhören" Ein Gespräch über das Coming-out

Aljosha Muttardi ist queerer Arzt, YouTuber und Aktivist. Wir haben mit ihm über das Coming-out gesprochen.

Aljosha Muttardi
Aljosha Muttardi über das Coming-Out, Dinge die man nicht sagen sollte und wann man einfach mal zuhören sollte Foto: Studio Bummens / Pauline Bossdorf
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Aljosha ist eigentlich Arzt für Anästhesie. Sieben Jahr lang arbeitete er in einem Hamburger Krankenhaus. Durch seinen YouTube Kanal mit dem ironischen Titel "Vegan ist ungesund" wurde er bekannt, inzwischen hat er seinen eigenen YouTube Kanal "Aljosha".

Für ihn habe die Auseinandersetzung mit dem Thema, so erzählt er uns heute, ein "Tor zum Bewusstsein" geöffnet. Seither setzt er sich für soziale Gerechtigkeit ein, ist Vollzeit-Aktivist. Seit er als Teil der "Fab 5" bei "Queer Eye Germany" auf Netflix zu sehen war - eine Show, in der queere Menschen ein liebevolles Make-Over hin zur Selbstakzeptanz bekommen - hat sich sein Leben verändert.

"Es war der queerste Space, den ich in meinem Leben je hatte. Die Zeit hat so viel in mir ausgelöst. Ich habe meine eigene Identität, meine angepassten Verhaltensweisen hinterfragt", erklärt er im Interview.

Seither fühle er sich freier, wolle daran arbeiten, sich nicht länger einzuschränken. Die Teilnahme an dieser Show sei es auch gewesen, die nun dazu geführt habe, dass er seinen eigenen Podcast startet - und Queerness einen eigenen Raum gibt.

In "Out and About" spricht Muttardi mit den verschiedensten Personen über ihr Coming-out. Warum gerade das Format - eines, in dem man einfach zuhört - passender nicht sein könnte und warum es auch heute, noch wichtig ist, sich zu outen - über all das haben wir mit Aljosha gesprochen.

Da das Thema „Coming-out” sehr privat ist, sind unsere Fragen es auch. Wenn dir das nicht passt, dann können wir die gerne überspringen.

Aljosha: Ich habe einen Podcast über das Thema Coming-out. Wenn ich jetzt sage ich möchte nicht über ein Coming-out sprechen, wäre das etwas paradox. Aber das erinnert mich an eine ganz unangenehme Situation. Da wurde ich während des Pride Months für ein Event eingebucht als Panel-Diskussionsteilnehmer zum Thema: Wie können wir Unternehmen diverser machen?

Da hat mich der Mann vor versammelter Mannschaft, auf einer riesigen Bühne gefragt: Wie war dein Coming-out? Erzähl Mal. Ich habe gar nicht mit dieser Frage rechnet. Ich dachte, es ginge um die Strukturen.

Erinnerst du dich noch daran, wie du dich gefühlt hast, als du beschlossen hast: Ich sage jetzt, dass ich schwul bin?

Ja, Ich wollte es damals nicht. Vielleicht wäre irgendwann eine Zeit gekommen, in der ich bereit wäre. Aber damals habe ich mich selber in eine Situation manövriert, in der ich das Gefühl hatte: Ich muss es jetzt selber machen, sonst macht jemand anderes es für mich.

Ich habe einen enormen Zwang empfunden, was mich mental in ein absolutes Loch gerissen hat. Ich bin richtig wahnsinnig geworden und paranoid, bin durch die Straßen gelaufen und habe gedacht, ich hätte etwas Schlimmes gemacht. Ich dachte ich fliege jede Minute auf. Damals hatte ich mit einem Mann in der Bar rumgeknutscht, in der Menschen gearbeitet haben, die ich kannte.

„Ich wollte selber nicht sagen, dass ich schwul war “
Aljosha

Ich dachte damals: Okay, ich bin aufgeflogen, das war es. Aus der Nummer komme ich nicht mehr raus. Dann habe ich es erst einmal vier, fünf Freund:innen erzählt -vielmehr habe ich versucht es ihnen aus der Nase zu ziehen. Ich wollte selber nicht sagen, dass ich schwul bin, weil ich das Wort schwul so negativ behaftet fand.

Das alles war mit ganz viel Angst und Stress verbunden. Ich muss aber sagen, dass es bei jedem Mal einfacher wurde - und besser. Aus den Gesprächen im Podcast habe ich aber Ideen mitgenommen. Ich dachte häufig: Wenn ich das nochmal machen müsste, würde ich es so machen.

Welche Ideen waren das?

Eine Person hat sich per Brief geoutet. Die Person war in San Francisco, die Eltern in Deutschland. Die Person hat eine Psychologin kennengelernt, und die hat gesagt: Hey, macht das doch per Brief und schreib, dass sie nicht anrufen sollen, sondern eben auch per Brief antworten. Das gibt ihnen Zeit, ihre Emotionen zu reflektieren. Da hast du nicht das Problem, dass du mit einer emotionalen Scheiß-Reaktion konfrontiert wirst.

Oder man übt mit einer anderen Person, mit der man sich schon sicherer fühlt. Aber am Ende ist es das, was ich auch immer sage: Niemand sollte sich jemals genötigt, gezwungen oder zu einem Coming-out gedrängt fühlen. Die einzige Person, die bestimmt, wann, wie und ob überhaupt, ist die Person selbst.

Hat man in seinem Leben dann immer wieder neue Coming-outs?

Im Krankenhaus war es öfter so, dass Leute mich gefragt haben, ob ich eine Freundin habe. Sie sind erstmal pauschal von der Norm, einer heterosexuellen Beziehung, ausgegangen.

Dadurch wirst du immer wieder zu einem kleinen Coming-out gezwungen, begibst dich immer wieder potenziell in eine unangenehme Situation, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Du kannst dir auch sicher sein, dass die Diskussion darum noch weitergeht.

Wenn du jemand bist, der von der Norm abweicht, was Äußerliches oder Bewegungen angeht, dann wird das natürlich viel häufiger passieren. Man macht sich generell viel angreifbarer, wird im Zweifel auch auf der Straße beleidigt.

Das ist auch der Grund, warum die Sichtbarkeit von queeren Menschen so wichtig ist - egal wo. Sie führt dazu, dass Menschen einen irgendwann als normal sehen. Desto häufiger wir das machen, und je mehr wir mit etwas konfrontiert werden, desto normaler empfinden wir es. Das ist letztlich das Ziel.

Wenn eine öffentliche Person sich outet, gibt es immer wieder Kommentare, die fragen: Warum ist das heute noch notwendig? Wie begegnest du dieser Annahme?

Diese Sichtweise ignoriert letztlich die Lebensrealitäten von Menschen. Wenn jemand sagt: Mir ist egal, was die Leute machen und wen sie lieben, ist das ein Freifahrtschein, sich mit nichts mehr auseinandersetzen zu müssen. Das bedeutet aber auch, dass man nicht hinguckt. Denn wenn man hingucken würde, wüsste man, dass es immer noch ein Big Deal ist.

„Solange queere Menschen nicht überall auf der Welt dieselben Recht haben. Solange lesbische Frauen sexualisiert werden, Trans-Menschen verfolgt und umgebracht werden, solange queere Menschen aufgrund der Diskriminierungserfahrungen, die sie machen Angst haben müssen, gemobbt oder umgebracht zu werden - solange ist kein Coming-out zu viel.“
Aljosha

Es mag sein, dass man in in einem Umfeld lebt, in dem man selber denkt: Ich hab da noch nie Unterschiede gemacht, ich liebe alle gleich.

Das mag sein, aber dann hast du vielleicht trotzdem noch nie richtig zugehört, noch nie richtig mit Menschen gesprochen.

Welche Dinge sagen Menschen während eines Coming-outs, die weniger hilfreich sind, als sie klingen?

Nummer eins ist: Mir war das schon immer egal. Ich liebe alle Menschen, ich sehe keine Hautfarbe, ich sehe keine Religion, ich sehe keine sexuelle Orientierung, ich sehe das alles nicht.

Was ich auch unangenehm finde ist es, wenn Leute anfangen von Menschen zu reden, die sie kennen und die auch schwul sind.

Oft höret man: Ich finde Schwule toll, endlich kann ich mit euch shoppen gehen. Wenn die Klischee-Kisten ausgepackt werden. Es mag sein, dass manche davon teilweise stimmen - aber, das heißt nicht, dass man sie immer wieder reproduzieren muss.

Das Angenehmste ist, wenn man Menschen einfach wirklich zuhört.

Wie würdest du dir wünschen, dass nicht queere Menschen, bei denen sich eine queere Person outet, stattdessen reagieren?

Das ist tatsächlich einer der Gründe, warum ich mir wünsche, dass auch viele nicht-queere Menschen den Podcast hören. Wir reden genau darüber. In erster Linie geht es darum, zuzuhören und Verständnis zu entwickeln.

Die Menschen wollen sich sicher fühlen und geliebt, gehört und verstanden werden wie alle anderen auch. Das ist ein Grundbedürfnis, dass wir alle haben. Das Wichtigste ist lernen zu wollen und bereit zu sein, Menschen die von Diskriminierung betroffen sind, zuzuhören.

Es gibt so viele kostenlose Inhalte auf Social Media, Podcasts, YouTube, wo Menschen aus einer Notwendigkeit heraus versuchen, andere Menschen mit auf den Weg zu geben, wie man es besser machen kann.

Indem man eben zuhört, indem man, wenn man körperliche oder verbale Gewalt sieht, einschreitet, indem man Kindern nicht die Schuld dafür gibt, dass sie queer sind - sondern der queerfeindlichen Gesellschaft die Schuld dafür gibt, dass sie queerfeindlich ist.

Ihr könnt euer Kind nicht dazu zwingen, nicht mehr queer zu sein, weil ihr Angst habt. Aber ihr könnt eurem Kind die Tools mit an die Hand geben, um sich zu schützen. Das macht ihr jedoch nicht, wenn ihr dem Kind sagt: Ich habe Angst, ich will nicht, dass du gemobbt wirst. Das kannst du nicht verhindern. Das ist ein Scheiß-Gefühl, das ist auch für das Kind ein Scheiß-Gefühl.

„Du kannst dem Kind aber sagen: Ich stärke dir den Rücken, ich bin da, ich bin stolz auf dich und du bist genau richtig, wie du bist. “

Fehlt dir manchmal die Energie zur Aufklärung?

Auf jeden Fall. Ich kämpfe auch mit meinen Themen, es ist ermüdend teilweise gegen eine Wand anzureden. Wenn man die Gewalt, die Brutalität, die Ignoranz der Menschen sieht und gleichzeitig versucht, empathisch über Themen aufzuklären, in denen es um Diskriminierung, um Existenzen geht.

Das ist auf Dauer sehr belastend. Mein Coping Mechanism ist mein privates Umfeld, das mit dieser Welt nichts zu tun hat. Ich sehe aber auch, dass es viel bewirkt und, dass ich vielen Menschen auch positive Resonanzen geben.

Wie ist jetzt dein Ausblick auf das, was kommt?

Ich kann nicht sagen, dass ich jeden Tag denke, dass die Welt ein besserer Ort ist. Ich merke natürlich, dass sich was tut. Aber es geht um soziale Gerechtigkeit. Für mich kann es nicht schnell genug gehen. Jedes Tempo scheint mir zu langsam.

Mit dieser Frustration muss ich irgendwie lernen zu leben. Ich muss eine gewisse Machtlosigkeit akzeptieren und trotzdem weiterkämpfen. Ein Mittelmaß finden, mit dem ich nicht kaputt mache und gleichzeitig auch dran bleibe.

Es geht insgesamt darum, die eigene Komfortzone zu verlassen. Je mehr die eigene Komfortzone angestrengt wird, desto ausgeprägter ist die Gegenreaktion meist.

Wenn wir sagen, dass man queere Menschen nicht bespucken sollte, dann ist das für die meisten Menschen wohl erstmal kein Problem. Wenn es aber darum geht, die richtigen Pronomen zu verwenden, wird es schon kritischer. Wenn wir etwas verändern müssen, was der Großteil des Alltags ist, dann haben wir noch stärkere Gegenreaktionen. Wir wollen gerne so weitermachen, bequem bleiben. Aber Aktivismus kann nicht bequem sein.