Welt der Wunder

Kontrollverlust: Wie fühlt es sich an, im Schlaf zu töten?

Keine Erinnerung, keine Kontrolle: Beim Schlafwandeln übernimmt das Unterbewusstsein unseren Körper. Oft ist das harmlos – manchmal aber der pure Horror. Welt der Wunder hat beim Experten nachgefragt.

Am Tatort
Am Tatort (Symbolbild) Foto: iStock / RgStudio
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"Ich glaube, ich habe ein paar Menschen umgebracht…“

Es ist 3.30 Uhr, als Kenneth Parks aus dem Schlaf hochschreckt. Mit aufgerissenen Augen und starrem Blick läuft er in den Flur, greift nach dem Autoschlüssel, steigt in seinen Wagen und fährt 23 Kilometer durch das nächtliche Kanada. 23 Kilometer, von denen er nichts mitbekommt, an die er sich später nicht erinnern wird – denn Kenneth Parks ist im Tiefschlaf.

Es ist sein Unterbewusstsein, das ihn zum Haus seiner Schwiegereltern lenkt. Dort greift er zum Brecheisen und hebelt mit Gewalt die Haustür auf. Lautlos schleicht er ins Schlafzimmer, wo er sich sofort auf seinen Schwiegervater stürzt und ihn würgt. Die Schwiegermutter springt panisch aus dem Bett. Sie versucht zu fliehen, Hilfe zu holen, doch Kenneth Parks rennt ihr hinterher und ersticht sie mit einem Küchenmesser. Dann setzt er sich in sein Auto und fährt zur nächsten Polizeistation. "Ich glaube, ich habe ein paar Menschen umgebracht…“

Dennoch verlässt er das Gericht als freier Mann. "Zu Recht!", sagt der Freiburger Schlafforscher Prof. Dieter Riemann. "Denn dieser Mann hat den Mord im Schlaf begangen. Es war bekannt, dass er Schlafwandler ist. Auch bei der Untersuchung im Schlaflabor sind Schlafwandelepisoden aufgetreten – und die kann man nicht simulieren."

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Interview mit Schlafforscher Prof. Dieter Riemann

Herr Prof. Riemann, dann muss man wohl hoffen, dass alle Schlafwandler freundlich sind – sonst wäre ihre Schlafstörung ja ein Freifahrtschein zum Morden.

So etwas passiert ganz, ganz selten. Was in dem Prozess sehr ausschlaggebend war: Es gab kein Motiv für die Tat! Und die Aussage des Schlafwandlers war schlüssig. Anders als in einem Fall eines englischen Kollegen. Der sollte ein Gutachten über jemanden erstellen, der nachts seine Frau totgeschlagen hatte. Auch er behauptete, das sei im Schlaf passiert.

Doch dann meldete sich ein Zeuge, der gesehen hatte, wie der Mann schon Wochen vorher im Garten das Grab ausgehoben hatte. Ebenfalls in der Nacht. Aber dass man erst schlafwandelnd im Garten das Grab aushebt und später den Ehepartner im Schlaf erschlägt, ist extrem unwahrscheinlich. Daher wurde dieser Mann auch verurteilt.

Kennen Sie solche Fälle auch aus Deutschland?

Wir hatten mal einen Fall, der war extrem spektakulär. Da hat eine Mutter behauptet, ihre 12-jährige Tochter hätte schlafwandelnd den eigenen Vater erstochen. Tatsächlich war dieses Mädchen als Schlafwandlerin bekannt, und einmal hatte man es in diesem Zustand auch mit einem Messer in der Küche beobachtet.

Trotzdem war es für uns nicht vorstellbar, dass ein Kind einen erwachsenen Mann mit einem gezielten Stich im Schlaf ermordet. Nachher hat sich dann herausgestellt, dass es die Mutter gewesen ist – zusammen mit ihrem Liebhaber. Allerdings kennen wir auch echte Fälle von Gewalt beim Schlafwandeln. Da wird dann der eigene Partner angegriffen.

Was machen Sie mit solchen Patienten?

Sie können sich vorstellen: Wenn man nachts wach wird, weil einen der eigene Partner mit abwesendem Blick würgt – dann fühlt man sich in der Zukunft nicht ganz wohl im Schlafzimmer. Unser Patient hat sich erst einmal stationär in die Psychiatrie einliefern lassen, weil er so verängstigt war. Für Heimaturlaube haben wir ihm dann immer einen Gurt mitgegeben, mit dem er sich nachts festschnallen konnte, und nur seine Frau konnte ihn öffnen. So war es möglich, dass er am Wochenende zu Hause übernachtet, ohne dass er Angst haben musste, dass er seiner Frau etwas antut.

Woher kommt denn diese Gewalt im Schlaf?

Bleiben wir mal bei dem Beispiel von dem Mann, der seine Frau gewürgt hat: Er ist in Los Angeles aufgewachsen, und seine Eltern – relativ wohlhabende Leute – sind häufig ausgegangen. Unser Patient war daher oft mit seinem jüngeren Bruder alleine zu Hause. Aus Angst vor Einbrechern schlief er immer mit einem Baseballschläger unterm Bett.

Dieses Würgen der Partnerin ist zum ersten Mal aufgetreten, nachdem er ihr einen Heiratsantrag gemacht hat. Wir haben versucht, seinen Fall psychologisch zu deuten, und sind zu dem Schluss gekommen: Mit der bevorstehenden Heirat hatte er plötzlich wieder das Gefühl, verantwortlich zu sein. Und wenn er sich dann nachts im Schlaf aus irgendeinem Grund bedroht fühlte und meinte, sich verteidigen zu müssen, hat er leider nicht erkannt, dass neben ihm seine Frau lag – und kein Einbrecher.

Aber nicht alle Schlafwandler treten in Interaktion mit anderen?

Absolut nicht! Ich würde sogar sagen, dass viele Schlafwandler gar nicht wissen, dass sie schlafwandeln, weil sie nämlich alleine leben und keiner merkt, wenn sie merkwürdige Dinge tun. Das fällt vielen erst auf, wenn sie nachts aus dem Fenster stürzen und sich schwer verletzen. Ein Patient ist beinahe erstickt, weil er sich irgendwelche Knödel, die in Plastik eingeschlagen waren, in den Mund gestopft hat. Ein anderer ist um ein Uhr nachts am Steuer seines Autos aufgewacht – und konnte sich zunächst nicht erklären, wie er dorthin gekommen war.

Gibt es auch Betroffene, die erst einmal an ihrem Verstand zweifeln?

Es gibt Menschen, die sich eine lange Zeit über die ungewöhnlichen Geschehnisse in ihrem Zuhause wundern. Die gehen dann morgens an den Kühlschrank, und es fällt ihnen ein Saustall entgegen – Messer, mit Butter verschmiert, und so weiter. Ein junger Mann erzählte mir, dass er abends immer seinen Aschenbecher ausgeleert hatte, am Morgen lagen dann aber wieder Zigarettenkippen drin. Das irritiert und verunsichert die Leute dann schon sehr.

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Wovon hängt es denn ab, was die Schlafwandler tun?

Häufig machen Betroffene im Schlaf die Dinge, die sie auch tagsüber gemacht haben. Ein junger Mann ist zum Beispiel umgezogen, hat seine Wohnung eingeräumt und steht nachts auf. Was macht er? Er schiebt das Bett hin und her, in dem seine Freundin liegt. Das war das, was er tagsüber gemacht hat.

Eine andere junge Patientin arbeitet im Lager einer Apotheke. Sie packt den ganzen Tag Medikamente aus und verstaut sie in Schubladen. Was macht sie nachts? Sie steht auf, geht an ihren Schrank und sortiert Socken und Unterhosen von einem Fach ins andere. Es ist oft so, als würde ein motorisches Programm abgerufen werden, das man tagsüber besonders gut geübt hat.

Und warum wird dieses Programm ausgerechnet im Schlaf wieder gestartet?

Unser Schlaf unterliegt Zyklen, die jeweils zwischen 90 und 120 Minuten dauern: Leichtschlaf, Tiefschlaf und Traumschlaf – und die wiederholen sich. Das Schlafwandeln kommt aus dem ersten Drittel der Nacht, aus dem tiefen Schlaf, der von den langsamen Wellen gekennzeichnet ist. In diesem Zustand sind wir ganz schwer weckbar.

Oder anders gesagt: Wir sind besonders bewusstlos, wir denken nicht, wir träumen nicht. Man geht davon aus, dass in diesem Zustand eine Fehlschaltung passiert. Es gibt einen Reiz, der einen wach macht – ein Geräusch oder was auch immer. Und dann schaltet sich nur die Motorik ein, ohne dass das Gehirn wach wird. Aber das ist leider in der Medizin und der Psychologie ein wenig beforschtes Phänomen.

Woran liegt das?

Die Forschung ist extrem aufwändig. Denn leider schlafwandeln Schlafwandler im Schlaflabor nur selten. Und wenn der Patient doch mal loswandert, reißt er sich sofort die Hirnstromelektroden ab … Ich kenne eine einzige erfolgreiche Untersuchung von einem Kollegen aus Bern.

Da ist es dem 16-jährigen Patienten nicht gelungen, die Kabel von seinem Kopf zu lösen. Seine Hirnströme wurden also weiter aufgezeichnet – und die zeigten ungewöhnlich langsame Deltawellen mit besonders starken Ausschlägen, das heißt, das Bewusstsein hat tief geschlafen, während die Motorik aktiviert war – das konnte man mit der bildgebenden Untersuchung bestätigen.

Weiß man denn, woher das mit dem Schlafwandeln kommt?

Wenn Sie einen Schlafwandler tagsüber mit bildgebenden Verfahren untersuchen, zum Beispiel mit Kernspintomografie, dann finden Sie nichts. Dann sind die Werte vollkommen normal. Wir wissen aber, dass Schlafwandeln eine genetische Basis hat. 80 Prozent der Schlafwandler haben mindestens eine weitere schlafwandelnde Person in der Familie.

Außerdem wissen wir, dass bestimmte Faktoren Schlafwandeln begünstigen – Stress, Schlafmangel, Fieber, ausgeprägter Alkoholgenuss und bestimmte Medikamente. Unter der Einnahme des Schlafmittels Zolpidem, immerhin eines der am häufigsten verschriebenen Schlafmittel, hat zum Beispiel eine Frau innerhalb weniger Monate mehr als 20 Kilogramm zugenommen. Sie konnte sich das nicht erklären – bis sie eines nachts schlafend vor dem Kühlschrank gefunden wurde … In den USA muss dieses Medikament deshalb inzwischen mit einem Warnhinweis versehen werden.

Könnte man bei Schlafwandlern nicht einfach den Tiefschlaf unterdrücken?

Solche Medikamente können kurzzeitig eingesetzt werden. Wenn ein Neunjähriger ins Schullandheim fahren soll und Angst hat, auf dem Klo aufzuwachen … Aber das würde man nie dauerhaft verschreiben, weil der Tiefschlaf sehr wichtig ist. Alternativ gäbe es Medikamente, die die Muskulatur relaxen oder sogar blockieren, aber die haben ein breites Nebenwirkungsspektrum: Sie können abhängig machen, die Gedächtnisfunktion und den Tiefschlaf stören, und man müsste ständig die Dosis erhöhen.

Auch das kann man nicht dauerhaft machen. Letztlich können sich die Schlafwandler nur selbst unterstützen, indem sie keinen Alkohol trinken, keine Drogen nehmen und ausreichend schlafen. Manchen hilft auch ein Mittagsschlaf, weil dadurch der Schlaf nachts nicht mehr so tief wird. Aber im Großen und Ganzen ist es jedes Mal ein ziemliches Herumexperimentieren und Herumrudern für uns Schlafmediziner – und natürlich auch für die Betroffenen …