Ein geheimes Meer

Die geheime Unterwelt von Budapest

Kaum jemand kennt das Geheimnis zu Füßen von Ungarns Hauptstadt: Unter den Fundamenten von Budapest erstreckt sich ein Ozean, der sich vor Jahrtausenden füllte – und der doch bis in unsere Zeit verborgen blieb.

Unter der Stadt liegt ein warmer riesiger See
Unter der Stadt liegt ein warmer riesiger See Foto: iStock / maryo990; Instagram / veres_attila0126
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Die Tropen Europas beginnen hinter einer schmalen Eisentür im Zweiten Bezirk vonBudapest. Völlig unscheinbar liegt das verwunschene Tor in eine andere Welt neben den Ruinen eines alten türkischen Bades und einem mit Seerosen überwucherten Teich. Wer diese Tür durchschreitet, gelangt zu einer geheimnisvollen Treppe, die hinab in die Tiefe führt.

Das nasskalte Herbstwetter bleibt an der Oberfläche zurück, Besuchern schlägt stattdessen feuchte Wärme ins Gesicht. Und schon nach wenigen Metern enden die Stufen im Wasser. Hier gleitet man in eine Traumwelt aus mysteriösen Höhlen, endlosen Gängen und kolossalen Kathedralen direkt unter der Hauptstadt Ungarns. Sind Sie bereit für das Abenteuer Tiefsee?

Unscheinbar: Hier geht es in die Unterwasserwelt

Tauchgang in einer Welt jenseits von Raum und Zeit

Wer Molnár János erkunden will, darf kein Tauchanfänger sein. Das Höhlensystem verlangt Grundkenntnisse im Erkunden von gefluteten Objekten. Allzu leicht verliert man in dem Gewirr aus Schächten, Kammern und Schrägen das Gefühl für oben und unten, für Raum und Zeit.

Engstellen im Gestein gebieten Vorsicht: Wer seinen Körper nicht perfekt ausbalanciert, riskiert Schrammen und Beulen durch vorstehende Kanten und Klippen – im schlimmsten Fall droht der Verlust vonAusrüstung oder sogar Schaden am Atemgerät. Wer aber jedes Nadelöhr überwindet, der kann das Treiben in einer der wärmsten Badewannen Europas genießen.

Doch woher kommt eigentlich der tropische Ozean rund 100 Meter unter den Bergen von Buda, dem westlichen Teil der Metropole an der Donau? Mindestens vier Thermalquellen verbinden das Höhlensystem mit dem Erdinneren. Sie heizen das Wasser an manchen Stellen auf bis zu 28 Grad Celsius auf und sorgen gleichzeitig für eine leichte, stetige Strömung.

Vor 30 bis 50 Millionen Jahren – als sich 300 Kilometer weiter östlich die Alpen erhoben – brach genau hier die Erde auseinander: Die Kräfte des Erdinneren erhoben Buda über die Ebene, das östliche Gebiet jenseits der Donau mit dem Stadtteil Pest blieb flach. Seit dieser Zeit quillt heißes Nass aus den Tiefen der Erde in die neuen Lücken im Gestein, bis undurchlässige Ablagerungen nahe der Oberfläche das weitere Vordringen fast völlig zum Erliegen bringen.

Auch die Kraft der nur etwa 250 Meter vom Höhleneingang dahinfließenden Donau, nach der Wolga immerhin der zweitgrößte Strom Europas, kann dem Monumentalbau nichts anhaben.

Ein Meer in Hallen - Die größte misst über 80 Meter länge

Schon die Römer priesen das Thermalbad von "Aquincum" – doch vom ganzen Ausmaß der Tiefsee unter ihren Füßen hatten sie keine Ahnung. Erst im 20. Jahrhundert entdeckten die Budapester ihren neue Reichtum – zufällig, bei Baggerarbeiten für die Kanalisation. In einem Binnenland wie Ungarn ohne Zugang zum Meer natürlich etwas ganz Besonderes.

Erst auf etwa sechs Kilometer Länge haben Taucher das Höhlensystem erkundet und sind dabei in Tiefen von über 100 Metern vorgedrungen. Was sie dort entdeckten, begeistert heute Besucher aus der ganzen Welt. Wann hat man schon einmal die Gelegenheit, in einem Meer zu schwimmen, dessen Wasser vom Himmel herabregnete, als in Ägypten die ersten Pharaonen nach der Macht griffen?

An manchen Stellen werden die schroffen Sandsteinwände aus ehemaligem Meeresboden von den Lichtkegeln der Taschenlampen zum allerersten Mal überhaupt erhellt: Unter dem Staub kommen versteinerte Korallen, Muscheln oder Seeigel zum Vorschein, älter als alle Säugetiere, die je über die Erde wandelten. Es gibt Hunderte Hallen, die größte bislang entdeckte misst mehr als 80 Meter Länge.

Bei allen Wundern sollte jedoch kein Taucher die Gefahren außer Acht lassen: Die unterirdische Welt ist absolut dunkel. Das Wasser enthält aggressive Schwefelwasserstoffsäure, ein Relikt früherer vulkanischer Aktivität: Metallene Ausrüstungsgegenstände müssen bereits nach Tagen ausgetauscht werden, da sie sichtbar rosten.

Und wer beginnt, sich hektisch zu bewegen – etwa weil der Vorrat an Atemluft knapp wird – macht das Wasser durch den aufgewirbelten Staub selbst für die besten Scheinwerfer undurchdringlich. Wer sich aber an die Regeln hält, erlebt die Budapester Tiefsee von ihrer schönsten Seite – und das nur einen Schritt durch eine Eisentür von der Oberfläche entfernt